Pendeln hat viele Gesichter – Fünf Typen von Pendelpraktiken

Den bzw. die ‚Pendler*in‘ gibt es nicht. Die Interviews mit Pendler*innen im Forschungsprojekt haben gezeigt, dass Pendler*innen sich stark darin unterscheiden, welche Einstellungen sie gegenüber dem Pendeln haben, welche Fähigkeiten und Möglichkeiten sie haben, um den Pendelweg zu gestalten und wie der Pendelweg mit weiteren Alltagsaktivitäten verbunden ist. Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen einer repräsentativen Regionalbefragung fünf unterschiedliche Typen von Pendelpraktiken herausgearbeitet (Stein et al. 2023).

(c) Susanne Köhler
(c) Susanne Köhler

Bei der Pendelpraktik „Hinnehmen“ ist das Pendeln weder positiv noch negativ besetzt. Pendeln wird vielmehr nicht in Frage gestellt, hingenommen und als unabwendbarer Teil von Erwerbsarbeit gesehen. Dies geht häufig mit einer langen Pendelbiografie einher und der langjährigen Etablierung und Einübung einer Pendelroutine. Der Pendelweg ist bei der Pendelpraktik „Hinnehmen“ darüber hinaus davon gekennzeichnet, dass während dem Pendeln kaum andere Aktivitäten ausgeübt und auch nur sehr selten andere Wege mit dem Arbeitsweg verbunden werden. Dies führt zwar zu wenig Pendelstress, aber auch zu einem Gefühl von Langeweile und verschwendeter Lebenszeit.

Die Pendelpraktik „Am Limit“ ist gekennzeichnet durch ein starkes Stressempfinden und einer negativen Einstellung gegenüber dem Pendeln. Diese entsteht vor allem aufgrund der Verkehrssituation, durch tägliches Im-Stau-stehen und die wahrgenommene Aggressivität und Rücksichtslosigkeit anderer Verkehrsteilnehmenden. Wie beim „Hinnehmen“ entsteht darüber hinaus Langeweile, da keine oder nur wenig andere Aktivitäten während des Pendels ausgeübt werden können. Teils liegt es am großen Konzentrationsanspruch den das Autofahren erfordert oder an Überfüllung und Umstiegen im ÖPNV. Im Gegensatz zu den Praktiken „Abgehetzt“ und „Optimieren“ sind bei „Am Limit“ nur wenige Versorgungsaufgaben mit dem Pendeln verbunden. Das Gefühl, „am Limit“ zu sein kommt ausschließlich vom eigentlichen Pendelweg, der Verkehrssituation und dem damit verbundenen Stress.

(c) Susanne Köhler
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Die Pendelpraktik „Abgehetzt“ ist ebenfalls von Stress und einer negativen Einstellung gegenüber dem Pendeln geprägt. Allerdings nicht primär auf Grund der Verkehrssituation, sondern insbesondere aufgrund des hohen Zeitbedarfs. Das Pendeln ist in einen aufwändigen Alltag eingebettet, vor allem, da die Praktik „Abgehetzt“ eng mit der Versorgungsarbeit (u.a. Kinderbetreuung) verknüpft ist. Pendeln kann nur in einem engem Zeitrahmen stattfinden, da die Pendelnden an Betreuungszeiten gebunden sind. Diese enge Taktung des Familien- und Arbeitsalltags begünstigt die Autonutzung, die bei dieser Praktik am höchsten ist. Die Pendelzeit kann u.a. aufgrund der Autonutzung nicht für andere Aktivitäten genutzt werden. Auch hier wird Pendeln dadurch als „verschwendete Lebenszeit“ gesehen.

Bei der Pendelpraktik „Nutzen ziehen“ liegt eine positive Einstellung gegenüber dem Pendeln vor. Ausübende dieser Praktik genießen ihre „Pendelfreizeit“ und nutzen die Zeit zum lesen, schlafen, telefonieren, usw. Diese Pendelzeit wird auch für Erledigungen oder Aktivitäten genutzt, für die sonst keine Zeit ist oder für die Freizeit „geopfert“ werden müsste. Zudem wird Pendeln geschätzt, da so ein Übergang zwischen Privatleben und Arbeitsleben entsteht. Auch bei dieser Praktik ist die Verknüpfung mit dem restlichen Alltag gering, es werden also wenige Wege mit dem Arbeitsweg verbunden und es liegen auch nur selten zeitliche Einschränkungen vor.

(c) Susanne Köhler
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Auch bei der Pendelpraktik „Optimieren“ ist Pendeln in einen eng getakteten Alltag integriert, in dem Care-Arbeit oder auch eine Vielzahl von Freizeitaktivitäten eine wichtige Rolle spielen. Im Gegensatz zum Segment „Abgehetzt“ versuchen Pendelnde hier aber, die Pendelzeit so gut wie möglich für sich zu nutzen und füllen die Pendelzeit mit anderen Aktivitäten, wie lesen, telefonieren oder Erledigungen machen und kombinieren Pendelwege stärker mit Freizeitaktivitäten. Pendeln bedeutet hier auch, Zeit für sich zu haben. So ist das Pendeln zwar auch stressig, aber es entsteht nicht die Wahrnehmung des Pendelns als verschwendete Lebenszeit.

Unterschiedliche Pendelpraktiken erfordern zielgruppenspezifische Maßnahmen

Bei genauerer Betrachtung der Pendelpraktiken zeigt sich, dass nicht nur die fehlende Infrastruktur der Grund für die Nutzung eines nicht-nachhaltigen Verkehrsmittels sein kann. So ist z.B. im Pendelsegment „Abgehetzt“ die Verflechtung des Arbeitsweges mit Sorgearbeit und damit einhergehende Zeitknappheit ein wichtiger Treiber für die Nutzung des Autos. Eine spezifische Maßnahme für die Pendelpraktik „Abgehetzt“ wäre folglich die Ermöglichung von mehr zeitlicher Flexibilität bei Kinderbetreuung und Arbeitszeit, um nachhaltigere Verkehrsmittel nutzen zu können. Folglich braucht es verschiedene Maßnahmen, um den unterschiedlichen Bedürfnissen von Pendler*innen gerecht zu werden. Weiterlesen

Mehr über die Unterschiede zwischen Pendler*innen und ihren Praktiken erfahren Sie in der Veröffentlichung „Das ist für mich so Pendelfreizeit“ im Downloadbereich. Weiterlesen